Sie fanden Reto, den Fallensteller, nicht ohne ihm in die Falle zu gehen. Tela musste ein wenig schmunzeln, als sie Lynia und Ghor aus der Lebendfalle befreiten – einmal wegen Ghors Gesichtsausdruck, dem man seine Mühe ansah, Ärger und Scham zu verbergen, aber auch, weil die Falle so kunstvoll ausgelegt war, wie sie es nur von einigen ihrer Schwestern kannte, die als Einsiedlerinnen tief in den Wäldern lebten und keinen Wert auf unangemeldeten Besuch legten.
In diesem Moment war ihr klar, dass sie auf der richtigen Fährte waren. Er würde nun wohl wissen, dass sie kommen würden, doch die Falle hatte ihnen mehr über ihn verraten als ihm über sie.
Wie würde er nun reagieren? Sie hätte es verstanden, wenn er ihnen schlicht aus dem Weg gehen würde, und wenn er nicht die heiße Asche eines Feuers hinterließe, hätten sie wohl keine Möglichkeit, festzustellen, ob er überhaupt da war.
Doch würde jemand wie Coran Grassberger, Bruder Zyriak oder Reto, wie er sich jetzt nannte, ohne Not sein Terrain verlassen? War nicht, trotz all der Jahre der anonymen Einsamkeit, Kämpfer genug, um sich ein paar dahergelaufenen Neugierigen zu stellen?
Ein leichtes Gefühl der Angst erfasste sie, als sie an ihren Traum dachte. War es eine Vorwarnung, ein böses Zeichen? Sie sah sich um, um zu fühlen, ob nicht die Schwere eines Blickes auf ihnen lag. Grauschnauz, den sie liebend gerne in die Wipfel geschickt hätte, hielt sie gut verpackt in der Kiepe. Für einen gnadenlosen, kühl berechnenden Kämpfer wie Grassberger wäre er ein lohnendes und leichtes Bogen- oder Armbrustziel.
Der Wald wurde lichter, und bevor sie die Rauchfahne sahen, drang bereits der Geruch eines Holzfeuers an ihre Nasen. Mit jedem Schritt, den sie auf die Hütte zumachten, stieg Telas Beklemmung. Es war subtil. Es war lange her, dass Hanni ihr beigebracht hatte, den Wald zu lesen, doch war sie hier las, gefiel ihr nicht. Ihr Weg führte in einer langen Spirale auf die Hütte zu, gleitet durch bodendeckende Dornranken, die in ihrer Dichtheit selbst Pferden Probleme machen würden. Als sie sich hinunterbeugte, sah sie, dass die Ranken vor nicht allzu langer Zeit geschnitten worden waren – und sie waren tatsächlich nicht hoch genug, um zuverlässig Deckung gegen Fernwaffen zu bieten. Die Hütten stand inmitten dessen, war wohl einmal eine Lichtung gewesen sein musste, nun aber von jungen, schlanken, fast astlosen Bäumen bestanden war. Lediglich neben der Hütte stand ein hoher knorriger Baum, aus dessen Geäst man ein gutes Schussfeld haben musste. Sie war sicher, dass ein Seil am Stamm verborgen sein müsste, mit dessen Hilfe ein Schütze den Baum in Sekundenschnelle besteigen könnte. Ein Holzstapel, eine kleine Räucherhütte und zwei scheinbar achtlos gegeneinandergestellte breite Holzverschläge boten zusätzliche Deckung. Ein Verteidiger der Hütte würde ohne große Mühe einen Köcher Pfeile auf sie abfeuern können, bevor sie ihn erreichten.
Ghor schien es auch aufgefallen zu sein, denn er schaute hielt seine Hand am Waffenknauf und sich selbst zwischen Lynia und der Hütte. Er blinzelte Hakim für einen kurzen Moment böse an, als dieser ein fröhliches Lied zu pfeifen begann, zuckte dann aber fast unmerklich mit den Schultern und schritt, Lynia neben sich herziehend, ebenfalls betont fröhlich aus.
Erst als sie auf gut zwanzig Schritt an der Hütte heranwaren, nahmen sie die Person wahr, die auf einer kleinen Bank vor der Tür saß und deren markantes Kinn unter dem Dunkel der Kapuze hervorragte. Der Rauch des Feuers lag zwischen ihnen, doch außer einer Axt, die einige Schritte entfernt in einem Spaltblock steckte, waren keine Waffen zu sehen.
Von der Person ging in ihrer Totenstille eine derartige Bedrohung aus, dass Tela unwillkürlich zurückwich. Das war der Mann aus ihrem Traum, der Mann, den sie auf der Südstraße gesehen hatte. Der mit einem Husten ein Lebenslicht auslöschen konnte.
„Boron zum Gruße, Reto Fallensteller“, sprach Ghor in die Stille nach Hakims letzten Ton. Die Stille schlug ihnen förmlich entgegen, so mächtig, sie hätte einen Theatersaal füllen können. „Oder sollte ich sagen: Coran Grassberger, vom strahlenden Helden Raidri vertriebener letzter Graf von Winhall?“, fuhr Ghor unberührt fort. Die Gestalt zischte etwas, und hob den Kopf unmerklich.
„Zwei junge, übermütige Kämpfer, eine gebrechliche Maga und eine junge Frau mit einer Katze auf den Rücken“, erklang seine tiefe, volle, etwas altersraue Stimme, „und sie nennen einen lange vergessenen Namen, den sie wohl irgendwo aufgeschnappt haben. Was soll ich von einem solchen Besuch halten? Die Linie der Grassbergers ist schon lang erloschen, und keiner fragt mehr nach ihnen. Ich war vor zwei Tagen in der Stadt und habe alle frischen Fänge verkauft. Ich bin ein ungastlicher Mann, der die Stille schätzt. In meinen Fallen und unter meinen Pfeilen verenden die Geschöpfe, die mein Terrain kreuzen. Geht, es gibt hier nichts für Euch! Hier regiert der Tod.“ Mit einer kurzen Handbewegung streifte er die Kapuze von seinem Schädel…
