Telas Blick blieb an der roten Schlange auf dem Wandteppich haften, und ging langsam an ihn heran. Sie hatte nicht viel Ahnung von Webkunst, doch als sie eine Ecke in ihre Hände nahm und an ihr Gesicht drückte, fluteten die vielfältigen Aromen des fortgerückten Alters ihre Nase. „Baron“, wandte sie sich an Fenwasian, „wie alt ist dieser Wandbehang?“. Der Baron runzelte die Stirn. „Mein Großvater hat mir Geschichten aus seiner Kindheit erzählt, in denen der Wandteppich vorkam. Das ist jetzt rund einhundertunddreißig Götterläufe her. Doch wenn man die Vorsprünge im Mauerwerk ansieht, an denen er befestigt ist, könnte ich mir sogar vorstellen, dass er so alt ist wie diese Burg, oder gar älter. Der Legende nach ist die Burg fünfzehn mal hundert Götterläufe als. Ich könnte in den Archiven nachsehen lassen, doch ich fürchte, dass wir aufgrund der langen Abwesenheit eines Gelehrten hier im Hause nicht gut sortiert sind…“
Tela betrachtete das Bild. Unter einer oberflächlichen Schicht Staub, die sich erstaunlich leicht abschütteln ließ, waren die Farben erstaunlich kräftig. Aus der Ferne wirkte das Gewebe gröber, als es tatsächlich war – ganz, als ob der Wandteppich seine Kunstfertigkeit erst dem aufmerksamen Betrachter zuteil werden lassen wollte. Sie konzentrierte sich und schloss kurz die Augen, bevor sie den Wandbehang mit Sumus Augen musterte. Ein weiterer Teil ihrer Kraft verschwand. War dort etwas? Ein rötlicher Schimmer? Sie vermochte es nicht zu sagen.
Inzwischen war auch Lynia herangekommen und betrachtete die rote Schlange von unten. Mit der Bewegung des Wandbehangs schien die Schlange zum Leben zu erwachen – die subtilen Webmuster ähnelten den Schuppen auf frappierende Weise. Die kleine Magierin schüttelte sich. „Es ist nicht das erste Mal, dass das rote Monster diese Gefilde heimsucht. Und offensichtlich ist man damals siegreich gewesen.“
Der Baron trat hinter die beiden Frauen und legte ihnen die Hände auf die Schultern. Er atmete tief aus. „Links im Bild, die Hirschkuh, ist die weltliche Gestalt der stillen Herrin über diesen Wald, der Fee Farindel. Die Fenwasians und Farindel verbindet eine lange Geschichte – man könnte sagen, dass wir ihre Statthalter in der Menschenwelt sind und auf ein friedliches Zusammenleben achten. Das blaue Band ist der Tommel. Und die rote Schlange nennen wir den „roten Wyrm“, Farindels Widersacher, zumindest der Legende nach, denn er ward seit unzähligen Generationen nicht gesehen.“ Fenwasian seufzte. „Was ich Euch hier erzähle, ist soetwas wie ein Familiengeheimnis. Und nun auch Eures.“
Lynia richtete sich auf und sah Baron Fenwasian an: „Erzählt uns alles, was Ihr über den Wyrm und den Krieg gegen ihn wisst. Und über Gräfin Conchobair, die mit ihm im Bunde zu stehen scheint. Tela, Du warst am nächsten an dem Wesen und der Gräfin dran – ist Dir irgendetwas aufgefallen? Jedes Detail ist wichtig. Wir müssen das Rätsel lösen, und die blinden Flecken aus der Legende mit unserem eigenen Wissen füllen!“ Ihre dunklen Augen leuchteten und überstrahlten Erschöpfung und Schmerz – die kleine Magierin hatte wieder Hoffnung geschöpft und war nicht bereit, den Kampf vorzeitig aufzugeben.
Nach anderthalb Stunden intensiver Diskussion waren ihnen einige Dinge klarer. Auch wenn noch einige Fragen offen waren, wussten sie soviel: Der Ring Rhiannas war der Fokus der Kraft des Roten Wyrms im Diesseits und wohl soetwas wie ein Schlüssel, der mit der Lebenskraft seiner Opfer gespeist wurde – er musste unter allen Umständen zerstört werden. Und der Felsen auf dem Wandteppich ähnelte einen ganz speziellen Ort am Tommellauf – mehrere von Fenwasians Untergebenen aus der Gegend konnten das bestätigen, und hinzufügen, dass es sich der Legende nach auch um einen verwunschenen, den zwölfen nicht gefälligen Ort handle, dem man sich nicht freiwillig und ohne Not nähern solle. Ohne zu zögern brachen die vier Gefährten und Grauschnauz auf.
