Ghors Klinge fuhr geräuschlos aus der Scheide. Tela legte ihre Hand auf seinen Schwertarm und drückte sie sanft, aber nachdrücklich zurück. „Lass es uns ohne Blutvergießen versuchen. Der Krieg wird noch genug Seelen zu Boron schicken.“ Ghor schaute sie fragend an. „Ich kümmere mich um die Wachen. Hakim ist der bessere Schwimmer, er kann von der Wasserseite ans Boot. Wenn ich ein Zeichen gebe, ist die Luft rein, dann kann Lynia nachkommen und einen Silentium auf den Rest des Schützenfests legen. Du leitest und überwachst die Aktion und gibst und Deckung, falls jemand etwas merkt. Sollte der Magier auftauchen, schalte ihn zuerst aus, sonst wird es häßlich.“
Ghor verdrehte die Augen. Tela merkte, dass es ihn juckte, seine Schwerter Blut schmecken zu lassen. Aber die knappe Zwanzigerschaft, die den Kahn begleitete, würde auch Ghor nicht im Alleingang bezwingen können. Und Tela wollte nicht riskieren, dass ihren Gefährten dasselbe passieren würde wie ihrer Freundin Zorka am Oberlauf des Mhanadi – sie wusste, wozu Kampfmagier fähig waren. „Vielleicht kannst Du Deine Klingen früher ziehen, als uns allen lieb ist. Wenn wir entdeckt werden, kümmere ich mich um Lynia. Wenn Du die Wachen auf Dich ziehst, schaffen wir es sicher. Aber dann heißt es „alle gegen Ghor“. Viel Glück!“
Ohne seine Reaktion abzuwarten drehte sie sich um und pirschte so lautlos es ihr möglich war einige Buschreihen näher an das Lager vor dem Treidelkahn. Dann kauerte sie nieder und ließ die Kräfte Sumus fließen. Frisch durchpulste es sie und sorgte für die leicht euphorische Übelkeit, die sie häufig empfand, wenn die Urmutter ihr besonders freundlich gesonnen war. In der Gewissheit, dass die beiden Wachen vor ihr in ihr keine Bedrohung sehen würden, schritt sie mit einem breiten Lächeln vorwärts. Sie hob die Hand zum Gruß, als sie sich näherte, und nestelte dann ein wenig an der imaginären Schnürung ihres Gambesons herum, wie man es eben so tat, wenn man nach einem Geschäft aus dem Gebüsch zurückkam. Die beiden hoben kurz den Kopf und grüßten zurück. Als sie bis auf wenige Schritt heran war, rieb sich einer der beiden müde die Augen und schaute erneut in ihre Richtung. Doch da ging auch schon ihre Hand zum Mund, um mit einem angedeuteten Gähnen die Kräfte Sumus ein weiteres Mal fließen zu lassen. Der Blick des Wachmanns wurde glasig, und Sekunden später schlossen sich seine Lider ganz. Auch sein Kompagnon war über dem Speer auf seinen Knien zusammengesunken.
Sie winkte Lynia heran, und deutet ihr, einen Silentium über das Mannschaftszelt zu legen. Die geflüsterte Formel drang an ihr Ohr, und erneut wunderte sie sich, wie man Magie so mechanisch betreiben konnte wie die Gildenmagier. Doch sie schüttelte diese Gedanken ab und konzentrierte sich auf die anstehenden Aufgaben. Mit einem kurzen Blick zu Ghor, der mit erhobenem Bogen im Schatten eines größeren Busches stand, vergewisserte sie sich, dass die Luft rein war, und ging zusammen mit Lynia an Bord des Kahns.
Ein massiger Schatten erhob schnell und geräuschlos sich aus einer Taurolle vor ihr. Sie zuckte zusammen, doch erkannte im Mondlicht das Gesicht und die vertraute Silhoutte Hakims, der seinen Dolch zwischen den Zähnen trug. Leise drangen sie in das achternschiffs angeordnete Zelt ein. Angstgeweitete Augen unter einem zerzausten roten Haarschopf starrten sie aus dem Halbdunkel an. Die Gräfin! Sie lebte! Tela zwinkerte ihr zu, als sie sich wieder umdrehte und die Tür sicherte, während Hakim mit schnellen Schnitten die Fesseln durchtrennte. Nur Seile, kein Metall! Was für ein Glück!
Auf Hakim gestützt kam die Gräfin wieder zum stehen. „Schön, Euch wiederzusehen!“, flüsterte die Hexe der Herrscherin ins Ohr. Franka Salva Galahan löste eine Hand von Hakim und drückte die Telas fest. Erstaunt bemerkte Tela, dass die Gräfin und sie sich in Größe und Statur nicht viel voneinander unterschieden. Ihr kam ein Gedanke. „Gräfin, wir bringen Euch nach Gut Apfeltreu. Doch der Weg dorthin führt durch Kriegsgebiet und ist gefährlich. So erkennt man Euch 10 Meilen gegen das Mondlicht. Hier, nehmt meine Kleider. Hakim, an die Tür, bei allen zehn zauseligen Zahoris! Ihr werdet meinen Platz auf den Pferden einnehmen. Ich habe meine eigenen Wege, wie Ihr wisst. Wir treffen uns dann dort…“
Ungeschickt schnürte sie sich die schweren, feminin geschnittenen Kleider der Gräfin an ihrem Körper fest, während die Gräfin in ihren braunen Reisehosen, dem grünen Oberteil und dem breiten Tuchgürtel mit ihrem in alle Richtungen abstehenden roten Haar wie eine richtige Hexe aussah. Gestützt auf Hakim verließen sie das Zelt. Ein letzter Seitenblick auf die Wachen, die weiterhin ruhig schliefen – in deren Haut würde sie am nächsten Morgen nicht stecken wollen, ging es ihr durch den Kopf. Vielleicht würden sie bis an ihr Lebensende Latrinen in Jast Gorsams Regimentern schrubben müssen, aber immerhin lebten sie noch.
