Sie rappelte sich auf, denn noch war die Schlacht nicht gewonnen, und jedes feindliche Schwert konnte ihren schnellen Tod bedeuten. Zornig blickte sie den Fliehenden hinterher. Sie sah, wie Rhianna ihre Hand gen Himmel streckte und purpurfarbenes Leuchten von dem Ring an ihrem Finger ausging. Praktisch augenblicklich, viel schneller als bei Lynias Balsam Salabunde, wuchsen die versengten Haare der Adligen nach, und die Brandblasen verschwanden aus ihrem Gesicht. Was für eine Hexerei ging hier vor!
Die Wipfelschlangen verschwanden über dem Waldtrauf, und mit ihren Führern verschwand der letzte Widerstand der Belagerer. Immer mehr Soldaten um sie herum ließen ihre Waffen fallen und reckten die bloßen Hände in die Höhe. Von der Wut und Entschlossenheit, mit der sie noch vor wenigen Minuten gegen das Burgtor gestürmt und den Tod ihrer Kameraden in Kauf genommen hatten, war nun nichts mehr zu spüren – als ob ein Bann von ihnen gehoben worden sei. Tela konnte ihren Gesichtern ansehen, dass sie es nicht fassen konnten, dass die große Gräfin Conchobair, Tochter des Schwertkönigs, beim ersten Anzeichen einer Niederlage vom Schlachtfeld geflohen und ihre Truppen im Stich gelassen hatte. „Krieg macht Leute dumm“, wollte Tela schon zu sich selbst sagen, aber dann besann sie sich des Grundes, warum sie hier mit einem zerschmetterten Arm am Boden lag – viel klüger war sie auch nicht gewesen, als sie sich ihrer Wut hingegeben hatte.
Mit dem gesunden Arm stützte sie sich auf ihren Stab, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Als sie sich umwandte, blickte sie in das breite Grinsen Hakims. „Wir haben es überstanden. Alle haben überlebt. Lynia scheint einen Pfeil abbekommen zu haben, aber wohl nichts Ernstes.“ Hinter ihm näherte sich Baron Fenwasian auf seinem Schlachtross und nickte ihnen zu: „Wir treffen uns in einer halben Stunde im Rittersaal. Ohne Eure Hilfe wäre es vielleicht anders ausgegangen – ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet!“ Dann wandte er sich um und brüllte über das Schlachtfeld, dass „unsere Landsleute, die missgeleiteten Soldaten und Kämpfer des Schwertkönigs Bastardstochter“ ohne unnötige Gewalt festzusetzen und mit Achtung zu behandeln seien, „wenn sie zeigen, dass sie zur Vernunft gekommen sind“. Versöhnliche Worte von jemandem, der noch wenige Minuten zuvor vor dem militärischen und politischen Abgrund stand. Aber er schien die Zeichen richtig gedeutet zu haben – die Männer der Gräfin hoben ihren Blick, und anfängliches Erstaunen wandelte sich in Achtung für den mutigen gegnerischen Anführer und albernischen Landsmann.
Als sie in den Rittersaal traten, gab Baron Fenwasian ein ganz anderes Bild ab. Ohne Rüstung und mit dem nackten, drahtigen Oberkörper eines alten Mannes lehnte er an eine eichene Säule, während ihm ein Knappe Kompressen auf eine Wunde am Torso drückte. Den Eintretenden schenkte er ein schmerzverzerrtes Lächeln. Lynia, die zusammen mit Tela vor der Burg die schlimmsten Verwundeten von Freund und Feind verarztet hatte, ging auf den Burgherren zu, um sich seine Wunde anzusehen. Doch bevor sie ihn erreichen konnte, verharrte sie mitten im Raum, stütze sich auf ihren Stab und sank fast elegant an ihm nieder. Schnell sprang Tela ihrer Freundin hinterher, aus deren Gesicht alle Farbe gewichen war. Sie öffnete die oberen Knöpfe ihrer Robe, um ihr das Atmen zu ereichtern, und spürte den Verband, wo man ihre Pfeilwunde verarztet hatte. Warum hatte Lynia hier keine Magie genutzt? Sie war zwar selbstlos, aber nicht so, dass sie sich ernsthaft selbst in Gefahr bringen würde. Etwas stimmte hier nicht, so dass sie den Verband vorsichtig zu Seite schob – und da sah sie es! Das gleiche rote Geästel, das schon bei der Fuhrfrau in Honingen zu sehen war, begann, sich von der Wunde aus auszubreiten. Sie sammelte ihre verbliebenen magischen Kräfte und strich etwas von ihrem Speichel auf das Geflecht. Die Hautrötung um die Adern verschwand sofort, und Lynias Atem ging spürbar leichter, doch die roten Linien veränderten sich nicht. Doch da öffnete ihre Freundin langsam wieder die Augen. „Ich werde es wohl noch etwas hinauszögern können. Doch nach allem, was ich weiß, bleiben mir nicht viel mehr als zwanzig Stunden.“
Die Freude um die gewonnene Schlacht, das Hochgefühl, selbst mit heiler Haut davongekommen zu sein – all das löste sich in Asche auf, und zurück blieb die endlose Schwärze in den Augen der Freundin, die direkt in Borons Reich zu führen schien. Sie wusste nicht, was sie tun sollte – schreien, weinen, sich auf den Stab schwingen und die Verfolgung der Gräfin aufzunehmen, um ihr den Kopf von den Schultern zu reißen – als sich die Hand Lynias um ihr eigenes Handgelenk schloss. „Zwanzig Stunden sind genug Zeit. Ich habe einen Plan. Oder zumindest soetwas ähnliches. Non hodie, Boron, non hodie cras neque!" Es fehlte nicht viel, doch der feste Blick Lynias gab Tela wieder soviel Halt, um sich wieder ihrer Umwelt zuzuwenden. Unter dem erschrockenen Blick der Umstehenden erhob sie sich und half Lynia wieder auf die Beine. „Unsere Freundin ist von einem Geschoss der Verräterin getroffen worden. Sie sagt, dass ihr noch zwanzig Stunden blieben. Doch wir werden einen Teufel tun, diese zwanzig Stunden mit voreiliger Trauer zu verbringen. Baron Fenwasian, wir haben Euch und Eure Burg vor dem Untergang bewahrt. Draußen liegen mindestens zwanzig Eurer Männer, denen es ähnlich geht wie unserer Freundin. Tut, was Ihr Euch und uns schuldig seid, was immer in Eurer Macht steht, um den Fluch dieses roten Wurmes“ – sie deutete auf das Wandgemälde, das erstaunlicherweise eine ganz ähnliche rote Schlange wie auf dem Schlachtfeld zeigte – „zu brechen und abzuwenden!“ Der Baron nahm die losen Enden seines Verbandes in die Hände, schickt mit einem Kopfnicken seinen Knappen weg und deutete seinen Gästen, sich an das Ende der großen Tafel zu setzen.