Honingen hatte sich verändert, und Tela freute sich darauf, diese Stadt bald wieder verlassen zu dürfen. Dieser bodenlos dumme Krieg zwischen Albernia und den Nordmarken hatte die friedliche Einigkeit der Menschen zerschlagen, und in den Rissen wuchs Missgunst und Verrat. Kriegsgewinnler witterten ihre Chance und boten für teures Geld sinnlose Waren und Dienste an, die in Friedenszeiten niemand nachgefragt hätte.
Fragen standen in den Gesichtern, die nicht laut ausgesprochen wurden. Was war wirklich vorgefallen auf dem Reichskongress? Die Gräfin war sicher nicht die Verräterin, als die sie die Nordmärker darstellten. Doch wo war sie, wieso zeigte sie sich nicht? Hatte es nicht freies Geleit gegeben für alle Teilnehmer des Reichskongresses?
Doch schlimmer war das Misstrauen, dass sich wie eine bleierne Decke über den Alltag gelegt hatte. Die Freundlichkeit wich der Höflichkeit, und die zweiten, taxierenden Blicke in vermeintlich unbeobachteten Momenten wurden häufiger – nicht nur ihr gegenüber, sondern auch zwischen den Bewohnern Honingens. Steckten die Fremden dort mit den Nordmärkern unter einer Decke? Hatte der Nachbar es nicht schon längst getan und einen Vorteil, einen Posten erlangt oder ein Geschäft gemacht? Sollte man sich nicht sogar offen den Nordmärkern anschließen?
Der albernische Doppelkreuzer und ihr guter Ruf als Helden von Gareth hatten ihnen nach und nach die Türen zum engsten Kreis um die Gräfin und zum Widerstand gegen die Nordmärker geöffnet. Vom Stadtvogt Honingens, Ui Harmlyn, und der Baronin Rahjalyn erfuhren sie, dass die Gräfin Honingen offiziell nie erreicht hatte, in Wirklichkeit aber von Baron Niamor, der sich als Verräter entpuppt hatte, auf ihrer Flucht nach Winhall den Nordmärkern ausgeliefert wurde. Die Getreuen der Gräfin vermuten, dass diese nun als Gefangene Richtung Gratenfels gebracht werden soll. Da ihnen die Hände gebunden seien, hoffen sie, dass diese Information inzwischen auch andere Unterstützer erreicht hat.
Hakim grübelte: „Die Gefangennahme der Gräfin ist das Ende des Albernischen Widerstands. So, wie das Volk Franka Salva Galahan verehrt, sehe ich niemanden, der jetzt an ihre Stelle treten kann. Und in einigen Tagen wird es zu spät sein, dann sind die Reichstruppen schon an allen Schlüsselpositionen des Landes.“ Ghor pflichtete ihm bei: „Wenn wir den Konflikt militärisch offen halten wollen, müssen wir die Gräfin befreien.“ Tela schmunzelte. Sie mochte die Gräfin, und sie mochte die Art und Weise, wie die Albernier von ihr sprachen. Es würde dem Land gut tun, sich zu wehren und seinen Stolz zu behalten, auch wenn anfänglich ein Aufflammen des Konfliktes bedeuten würde. Denn was war die Alternative: ein jahrelanger Krieg, wie ihn die Maraskaner führen würden, mit vielen Opfern auf beiden Seiten? Nein, das Herz der Albernier gehörte der Gräfin, und diese verdiente eine Chance, sich als Anführerin zu bewähren.
Als sie Lynias zerschlagenes Gesicht sah, fürchtete sie bereits das Schlimmste, doch die Magierin war konzentriert über einen leblosen Körper gebeugt du schien ihr blaues Auge und die blutenden Kratzer auf ihrer Wange überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Um sie herum standen einige neugierige Menschen, während einige Meter abseits die Perainegeweihte beruhigend auf eine Gruppe heftig in Lynias Richtung gestikulierender Männer einredete. Was auch immer geschehen war, die Situation schien vorerst unter Kontrolle, so dass sie sich Lynia und ihrer Patientin zuwandte.
Weit aufgerissene, leere Augen blickten sie an. Feine rote Streifen zogen sich von einer Bisswunde am Hals herab und verdichteten sich in Richtung der linken Brust der jungen Fuhrfrau. Tela sah Lynia fragend an, doch die Magierin blickt nur kurz ratlos auf. Beherzt öffnete Tela das Mieder der Toten: die roten Äderchen ballten sich in einem Kinderfaustgroßen Knäuel über dem Herzen des Opfers. „Das ist mir neu“, sagte die Hexe, „das habe ich noch nie gesehen. Kein mir bekanntes Tier hinterlässt solche Spuren.“ Vorsichtig berührte sie die Äderchen, doch außer weichem, totem Gewebe konnte sie nichts Außergewöhnliches ertasten. Sie schob Lynia ein wenig zur Seite und wirkte konzentrierte sich auf magische Auren. „Magie“, sagte sie, und Lynia nickte. „Auch nichts, was ich kenne. Es erinnert mich an etwas, aber nur vage. Die Farbe, die Aura…“. Tela hatte genug gesehen. Wenn Lynia etwas auf der Spur war, würde sie es schon finden, schließlich war sie eine Meisterin in magischer Analyse. Sie erhob sich und wandte sich mit einem Seufzen den Streitenden zu, die weiterhin in Richtung der Fuhrfrau gestikulierten. „Immer in den dicksten Trubel, Teliana, immer mittenrein…“ murmelte sie sich selbst zu, bevor sie ihr Lächeln anknipste und sich dem Fuhrmann in der Mitte der Gruppe in Koscher Dialekt zuwandte: „Schande ma, des Dirn hets Weech zo Boron funden. So jung ook! Wo kimm det heer, det arme…?“. Der Fuhrmann, froh, dass ihm jemand zuhörte, begann zu erzählen, und bald fiel die ganze Truppe in die Geschichten ein. Der rätselhafte Tod der jungen Frau ließ die Umstehenden für eine kurze Zeit den Krieg um sie herum vergessen.